Unter dem Titel „Die Medizin nimmt’s persönlich“ hat der Deutsche Ethikrat am 24. Juni im Rahmen seiner dritten öffentlichen Abendveranstaltung der Reihe „Forum Bioethik“ über Möglichkeiten und Grenzen der Individualisierung von Diagnose und Therapie diskutiert.

Therapien seien nicht so wirksam, wie sie sein könnten, weil viele Patienten Medikamente erhielten, die nicht optimal für sie geeignet seien. Dies erklärte Friedemann Horn vom Institut für Klinische Immunologie und Transfusionsmedizin der Universität Leipzig im einführenden Vortrag zu den wissenschaftlichen, medizinischen und technischen Aspekten der personalisierten Medizin. Da klinisch scheinbar identische Erkrankungen teilweise unterschiedliche molekulare Charakteristika aufwiesen, reagierten Patienten verschieden auf Medikamente. Eine individualisierte oder personalisierte Medizin ziele darauf ab, solche Krankheits-Subtypen zu erfassen, die individuelle Ansprechbarkeit auf Therapien zu prognostizieren sowie perspektivisch neue individualisierbare Therapieformen und eine optimale, auf den Patienten abgestimmte Behandlung zu entwickeln. Ein anderer Fokus liege auf der Erforschung genetischer Krankheitsrisiken; es habe sich aber gezeigt, dass komplexe Erkrankungen nicht allein von genetischen Faktoren bestimmt würden. Neben diesen und anderen biologischen Parametern seien auch Umwelt- und Lebensstilfaktoren zu berücksichtigen.

Norbert Paul vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Mainz referierte über die ethischen und gesellschaftlichen Aspekte des Themas. Er betonte, dass die personalisierte Medizin bezogen auf ihre klinische Anwendbarkeit zwar noch in den Kinderschuhen stecke, nicht aber mit Blick auf die erweiterten Möglichkeiten der Informationsgewinnung. Die klinische und genombasierte Ermittlung von Erkrankungsrisiken biete jedoch nicht nur die Chance einer Differenzierung von Therapieangeboten, sondern provoziere eine Reihe ethischer Fragen: Ist eine Individualisierung nicht zwangsläufig mit einer genetischen oder biologischen Diskriminierung verbunden? Bedeutet sie eine Steigerung der Autonomie oder den Verlust an informationeller Selbstbestimmung? Führt die Personalisierung zu einer besseren sozialen Erreichbarkeit von Gesundheitsangeboten?

Mit diesen Fragen leitete Paul direkt in die anschließende Podiumsdiskussion über, an der neben den beiden Referenten die Kölner Journalistin Sibylle Herbert und Klaus Lindpaintner von den Roche Molecular Medicine Laboratories in Basel teilnahmen. Durch die Diskussion führte Ethikratsmitglied Regine Kollek.

Lindpaintner sah durchaus Vorteile in der personalisierten oder „präziseren“ Medizin, die auf den Erfolgen der bereits praktizierten Differenzialdiagnostik aufbaue. Er sehe lediglich die Gefahr, dass unausgereifte Diagnostika vorschnell in die Praxis überführt würden. Er warnte zudem vor zu großen Erwartungen. Bei der personalisierten Medizin gehe es um Wahrscheinlichkeiten, nicht um Sicherheiten.

Sibylle Herbert kritisierte, dass zum einen von der individualisierten Medizin die Rede sei, zum anderen dem Patienten in der Praxis vermittelt werde, dass er als Individuum eine immer geringere Rolle spielt; einerseits würden große Leistungsversprechen gemacht, andererseits werde auf die begrenzten Ressourcen verwiesen. Als besonders problematisch sah sie es an, dass Ärzte ihre Patienten oft nach Nützlichkeitskriterien behandelten und die Entscheidung, wann eine Therapie in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen wird, für Betroffene oft zu spät komme.

In der für das Publikum geöffneten Diskussion wurden insbesondere Fragen nach neuen Herausforderungen für das Arzt-Patient-Verhältnis aufgeworfen, wie der Schutz des Patienten durch eine umfassende und allgemein verständliche Aufklärung und informierte Einwilligung sichergestellt werden könne. Thematisiert wurde auch die Missverständlichkeit der Begriffe der personalisierten oder individualisierten Medizin. Dies zeige, so Regine Kollek in ihrem Schlusswort, dass die Wissenschaft auch eine Verantwortung für die Wahl ihrer Leitbilder trage, mit denen sie neue Entwicklungen propagiere, und dass hinsichtlich des Anspruchs einer Individualisierung mehr Zurückhaltung geboten sei.

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