Der Zeitrahmen in der Organspende zeigt, dass Angehörigengespräche unter einem enormen Zeitdruck erfolgen. Sie werden nicht im Sinne der „Organspender“ oder der Angehörigen sondern ausschließlich im Hinblick auf potentielle Organempfänger geführt.

Laut Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) haben 1.198 Menschen im Jahr 2008 Organe „nach ihrem Tod gespendet“. Lediglich in 6,3% der Fälle lag der Zustimmung ein schriftlicher Wille des „Organspenders“ zugrunde. Demnach haben in 93.7% der Fälle die Angehörigen entschieden. Laut Jahresbericht der DSO aus dem Jahr 2008 (Region Nord) „sollte die Zeit bis zur Organentnahme nach erfolgter Hirntoddiagnostik und vorliegender Einwilligung möglichst kurz sein. Die Zeit für das Gespräch mit den Angehörigen ist selbstverständlich nicht limitiert.“

Wenn keine schriftliche Organspendeerklärung vorliegt, können Ärzte die Angehörigen über die Diagnose „Hirntod“ erst nach endgültiger Hirntod-Feststellung informieren und um eine Organspende bitten. Anderenfalls würden sie sich dem Vorwurf aussetzen, dass sie einen schwer kranken Menschen nicht mehr optimal Behandeln und auf eine „Organspende“ aus sind.

Die DSO veröffentlicht jährlich den „Zeitlichen Rahmen der Organspende“. Gemeint ist die Zeit von der Hirntodfeststellung bis zum Ende der Organentnahme. Da die Zeit für das Gespräch „selbstverständlich nicht limitiert“ sein soll, überraschen die extrem kurzen „Prozesszeiten“ zwischen Hirntodfeststellung und dem Ende der Organentnahme aus dem Jahr 2008.

• 93,7 Prozent der Organentnahmen waren 24 Stunden nach der Hirntodfeststellung beendet.
• 84,0 Prozent der Organentnahmen waren 18 Stunden nach der Hirntodfeststellung beendet.
• 42,7 Prozent der Organentnahmen waren 12 Stunden nach der Hirntodfeststellung beendet und
• 6,3 % der Organentnahmen waren 7 Stunden nach der Hirntodfeststellung beendet.

Zieht man die OP-Zeiten und die Zeit für die Organisation der Organentnahme ab, verkürzen sich in allen Fällen die Prozesszeiten um mehrere Stunden.

Nach Angaben der DSO (bundesweite und regionale Jahresberichte) beinhaltet der o.g. Zeitrahmen:
a) Die Zeit für das Gespräch mit den Angehörigen. Unter Umständen sind sogar mehrerer Gespräche notwendig.
b) Die Bedenkzeit für Angehörige nach „Hirntodfeststellung“.
c) Die Zeit für die Entscheidungsfindung der Angehörigen.
d) Die „Phase der Meldung an Eurotransplant, inklusive der dann notwendigen apparativen und labormedizinischen Untersuchungen“.
e) Die „Dauer für eine gerechte Zuteilung der Organe auf eine bundeseinheitliche Warteliste durch Eurotransplant“.
f) Die Dauer der Organexplantation bis zum Ende der Organentnahme.

Die Angehörigen eines „Organspenders“ müssen in dieser kurzen Zeit viel verstehen, bewältigen und entscheiden.
Angehörige werden in einer Ausnahme- und Schocksituation über die Aussichtslosigkeit der Therapie informiert und sollen diese Informationen verarbeiten und akzeptieren. Eine Voraussetzung, um überhaupt alles weitere verstehen und entscheiden zu können.
Als weitere Voraussetzung einer tragfähigen Entscheidung für eine Organentnahme werden sie über den Hirntod „informiert“ und sollen bzw. müssen in dieser Situation das Hirntodkonzept verstehen und akzeptieren. Dann müssen sie das Hirntodkonzept mit ihrer Vorstellung über den Tod des Menschen im Allgemeinen, aber insbesondere den Tod des geliebten Menschen, der vor ihnen liegt und lebendig erscheint, abgleichen. Falls sie dazu den Hausarzt oder einen Seelsorger – vielleicht sogar beide – kontaktieren müssten, können sie das laut Angaben der DSO tun. Nachdem sie dies in der kurzen Zeit geschafft haben, müssen sie sich noch mit der Frage nach einer Organentnahme befassen. Also damit, dass man den noch lebendig erscheinenden Körper zer- und verteilen wird. Zusätzlich müssen Angehörige verkraften, dass sie im Falle einer Zustimmung zu einer Organentnahme keine Sterbebegleitung im üblichen Sinne vollziehen können. Sie müssen sich auf der Intensivstation von einem Menschen verabschieden, der lebendig erscheint.

Warum dieser Zeitdruck? Es ist durchaus möglich, „Hirntote“ in ihrem Zustand länger als einen Tag zu behandeln:

• Die „hirntote“, schwangere Gabriele Siegel blieb 87 Tage am „Leben“, obwohl sie nach geltendem Recht die gesamte Zeit tot gewesen sein soll und brachte in der 29. Schwangerschaftswoche einen Sohn zur Welt.
• Bei der 19jährigen Marion Ploch, wurde am 08.10.1992 der „Hirntod“ festgestellt. Sie war in der 15. Schwangerschaftswoche und bekam 5 Wochen (!) später einen spontanen Abort.
• Ein Extrembeispiel wurde von SHEWMON 1998 publiziert. Er beschrieb einen 18-jährigen Amerikaner, der seit seinem 4. Lebensjahr, also seit 14 ½ Jahren, alle klinisch und apparativ nachweisbaren Zeichen des Hirntodes aufwies und an einem Heim-Respirator weiterbeatmet wurde.

Die Intensivtherapie kann nicht in jedem Fall von „Hirntod“ so lange hinausgezögert werden und es besteht die Gefahr, dass sie auf Dauer die Organe der Organspender schädigt. Allerdings zeigen Fachveröffentlichungen, dass „Überlebenszeiten“ von Leichen („Hirntoten“) von einer Woche über mehrere Monate bis hin zu einem Jahr und länger, durchaus öfter vorkommen.

Am 13. Mai 2009 beschloss der Bundestag eine Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes. Anlass für die Änderungen des Gesetzes war der Streit um „Spätabtreibungen“. Das Gesetzt schreibt nun eine dreitägige Frist zwischen Diagnose und Abtreibung vor, die es zuvor nicht gab. Eltern sollen nicht im ersten Schock nach der Diagnose eine Entscheidung treffen.

Was für „Spätabtreibungen“ zukünftig gelten soll, muss zum Maßstab für Angehörigengespräche in der Transplantationsmedizin werden. Die 2008 praktizierten schnellen Prozessabläufe in der Transplantationsmedizin lassen vermuten, dass tragfähige Entscheidungen von Angehörigen von „potentiellen Organspendern“, die unter Schock stehen, nicht möglich sind.

„Die Zeit für das Gespräch mit den Angehörigen ist selbstverständlich nicht limitiert“, so die DSO. Das Vorgehen in der Praxis widerspricht dieser Behauptung.

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