Fast 1,1 Millionen Krankenhausaufenthalte verzeichnete die Techniker Krankenkasse (TK) 2009 insgesamt, in über 50.000 Fällen handelte es sich dabei um Patienten mit Depressionen, Schizophrenien oder Persönlichkeitsstörungen. Rechnet man die TK-Daten auf die Gesamtbevölkerung hoch, ergeben sich bundesweit über eine halbe Million stationäre Aufenthalte aufgrund dieser psychischen Diagnosen – Klinikaufenthalte, die sich vermeiden ließen, wenn die Patienten angemessen ambulant betreut würden. Obwohl diese Meinung mehrheitlich von Medizinern, Patienten, Angehörigen und Krankenkassen geteilt wird, mangelt es hierzulande noch immer an Angeboten, die den Bedürfnissen psychisch Kranker gerecht werden und ihnen ein Leben jenseits der stationären Psychiatrie ermöglichen.

Die TK stellte heute in Berlin das NetzWerk Psychische Gesundheit (NWpG) vor, bei dem sich erstmals sozial- und gemeindepsychiatrische, ambulante und stationäre Anbieter integriert um die Patienten kümmern. Ziel des neuen Konzepts ist, die Patienten so weit zu unterstützen, dass sie trotz ihrer Erkrankung im gewohnten familiären, beruflichen und sozialen Umfeld bleiben können – ambulant statt stationär. Im Mittelpunkt des neuen Konzepts stehen dabei die aufsuchende Betreuung zu Hause (home treatment) sowie Rückzugsräume, die die Patienten bei Bedarf nutzen können.

„Diese so genannten Krisenpensionen bieten den Patienten jederzeit eine Rückzugsmöglichkeit, ohne dass sie ihr gewohntes Lebensumfeld für längere Zeit verlassen müssen. In diesen Wohngemeinschaften steht ihnen jederzeit professionelle Hilfe zur Verfügung“, erläuterte Professor Dr. Norbert Klusen, Vorsitzender des TK-Vorstandes das neue Konzept.

Auch von Seiten der Patienten wurde das neue Angebot positiv aufgenommen: „Ein Projekt mit home treatment und Krisenpension hätte meine Klinikaufenthalte wahrscheinlich überflüssig gemacht“, ist sich Anne Hoffmann sicher. „In jedem Fall wäre es wesentlich leichter geworden, einen Umgang mit meiner Erkrankung zu finden. In der Klinik war ich in der totalen Überversorgung, die mich zusätzlich geschwächt und unselbstständig gemacht hat. Die ambulante Versorgung erlebte ich im Gegensatz dazu als unzureichend und überfordernd. Beides ging so an meinem Bedarf vorbei. Ein Projekt wie dieses Netzwerk, das sich am Bedarf orientiert, hätte ich mir gewünscht.“

Neben den Krisenpensionen können die Patienten sozialpsychiatrische Hilfe, so genanntes „home treatment“, in Anspruch nehmen. Die Angehörigen bewerten das neue Versorgungsangebot, das auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten und ihrer Familien ausgerichtet ist, als einen großen Fortschritt: „Das ist ein echter Paradigmenwechsel. Besonders die aufsuchenden Hilfen können Patienten und Familien entlasten und kritische Situationen innerhalb der Familien vermeiden. Eine ambulante Begleitung, die die Selbstverantwortung der Patienten stärkt, ist für alle Beteiligten von großem Nutzen“, erklärte Marianne Schumacher vom Landesverband der Angehörigen psychisch Kranker (ApK) in Berlin.

Professor Dr. Dr. Klaus Dörner, Professor für Sozialpsychiatrie, zu dem neuen Konzept: „Ausgenommen einiger schwerer Psychosen gibt es kaum eine wirkliche Indikation, die eine stationäre Behandlung erfordert. Ein solches ambulantes Netzwerk schafft nach 30 Jahren erstmals Anreize, um die Kluft zwischen dem ambulanten und stationären Bereich, zwischen medizinischen und sozialen Profis, vielleicht auch zwischen Professionellen und Bürgerhelfern zum Nutzen des Patienten zu schließen.“

Das NetzWerk Psychische Gesundheit ist in Berlin bereits gestartet, in diesem Quartal kommen zudem München, Augsburg und Bremen hinzu, im weiteren Verlauf des Jahres Lübeck, Kiel, Göttingen, Nord-Niedersachsen (Hemmoor) und Nürnberg. In Vorbereitung sind weitere Regionen wie Hamburg, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen.

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