Eine Mitteilung von Michelle Bachelet, Leiterin der UN-Frauen-Organisation UN Women: Heute vor hundert Jahren haben Frauen auf der ganzen Welt einen historischen Schritt in Richtung auf Gleichberechtigung getan. Der erste Internationale Frauentag wurde damals eingeführt, um Aufmerksamkeit auf die unzumutbaren und oftmals gefährlichen Arbeitsbedingungen zu lenken, mit denen sich Frauen weltweit konfrontiert sahen. Obwohl der Anlass in nur ein paar Ländern gefeiert wurde, demonstrierten doch mehr als eine Million Frauen auf den Strassen und forderten neben besseren Arbeitsbedingungen auch das Recht zu wählen, ein Amt zu führen und gleichberechtigte Partner mit den Männern zu sein.

Ich vermute, dass diese mutigen Pioniere unsere heutige Welt mit einer Mischung aus Stolz und Enttäuschung ansehen würden. Wir haben bemerkenswerte Fortschritte gemacht; das letzte Jahrhundert führte zu einer beispiellosen Expansion der Rechtsansprüche und Berechtigungen von Frauen. Tatsächlich kann die Förderung der Frauenrechte als eine der tiefgreifendsten sozialen Revolutionen der Welt angesehen werden.

Vor hundert Jahren gab es nur zwei Länder, in denen Frauen wählen durften. Heute ist das Wahlrecht fast ein allgemeines Menschenrecht, und Frauen wurden auf allen Kontinenten in Führungspositionen der Regierung gewählt. Frauen nehmen auch führende Positionen in Berufen ein, von denen sie früher ausgeschlossen waren. Vor gar nicht so langer Zeit sahen die Polizei, Gerichte und Nachbarn häusliche Gewalt noch als reine Privatangelegenheit an. Heutzutage sind in zwei Drittel aller Länder spezielle Gesetze erlassen worden, die häusliche Gewalt bestrafen, und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bezeichnet hat sexuelle Gewalt heute als bewusste Kriegstaktik.

Doch trotz der Fortschritte im vergangenen Jahrhundert sind die am ersten Internationalen Frauentag geäusserten Wünsche noch lange nicht wahr geworden. Fast zwei von drei erwachsenen Analphabeten sind Frauen. Es ist immer noch so, dass Mädchen weniger Zeit in der Schule verbringen als Jungen. Täglich stirbt alle 90 Sekunden eine Frau während der Schwangerschaft oder bei auftretenden Komplikationen während der Geburt, trotz unseres Wissens und unserer Ressourcen, die für einen sicheren Geburtsprozess sorgen sollten.

Auf der ganzen Welt verdienen Frauen für die gleiche Arbeit weiterhin weniger als Männer. In vielen Ländern herrscht immer noch ungleicher Zugang zu Land- und Erbrecht. Und trotz hochkarätiger Fortschritte machen Frauen immer noch nur 19 Prozent der Gesetzgeber aus, 8% der Parlamentäre, und es gibt nur 28 weibliche Staats- und Regierungschefs.

Es sind nicht nur Frauen, die für diese Diskriminierung den Preis zahlen. Wir leiden alle darunter, weil wir das Talent der Hälfte der Weltbevölkerung nicht ausschöpfen. Wir untergraben die Qualität unserer Demokratie, die Stärke unserer Wirtschaft, die Gesundheit unserer Gesellschaft und die Nachhaltigkeit des Friedens. Der diesjährige Schwerpunkt des Internationalen Frauentags auf den gleichwertigen Zugang zu Bildung, Ausbildung, Wissenschaft und Technologie unterstreicht die Notwendigkeit, dieses Potenzial zu erschliessen.

Die Tagesordnung mit dem Ziel der Gleichberechtigung der Geschlechter und Frauenrechte gilt für die gesamte Welt und stellt eine Herausforderung für jedes Land dar, ob arm oder reich, im Norden oder Süden. In Anerkennung der Universalität und der Vorteile im Fall der Durchsetzung dieses Rechts haben die Vereinten Nationen vier bestehende Organisationen zusammengebracht, um die UN-Frauen-Organisation UN Women zu schaffen. Ziel dieser neuen Institution – und es ist ein Privileg für mich, sie leiten zu dürfen – ist, das gesamte UN-System wachzurütteln, damit wir das Versprechen der UN-Charta mit Hinsicht auf Gleichberechtigung von Männern und Frauen einlösen können. Dafür habe ich mein ganzes Leben lang gekämpft.

Als junge Mutter und Kinderärztin habe ich mich selbst abgemüht, Familie und Karriere miteinander zu vereinen, und ich habe gesehen wie der Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen Frauen daran hinderte, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Die Aussicht, diese Hindernisse zu beseitigen war ein Grund, warum ich in die Politik gegangen bin. Es ist der Grund, warum ich die Politik unterstützt habe, die Familien Zugang zum Gesundheitswesen und Kinderbetreuung ermöglichte und staatliche Ausgaben für den Sozialschutz priorisierte.

Als Präsidentin habe ich mich stark für die Chancengleichheit von Männern und Frauen eingesetzt, um ihr Talent und ihre Erfahrung vor die Herausforderungen unseres Landes zu stellen. Deswegen habe ich eine Regierung vorgeschlagen, die sich aus der gleichen Anzahl von Männern und Frauen zusammensetzen würde.

Als Leiterin der Un-Frauen-Organisation UN Women möchte ich meine Reise- und gesammelten Erfahrungen um mich herum anwenden, um Fortschritte in Richtung auf wahre Gleichberechtigung weltweit zu fördern. Wir werden in enger Partnerschaft mit Männern und Frauen, Führungskräften und Bürgern, der Zivilgesellschaft, dem Privatsektor und dem gesamten UN-System zusammenwirken, um Länder dabei zu unterstützen, dieses würdige Ziel mit Hilfe von Politik, Programmen und Etat zu erreichen.

Ich habe oft gesehen, was Frauen unter den schwierigsten Umständen für ihre Familien und die Gesellschaft erreichen können, wenn man ihnen die Gelegenheit gibt. Die Stärke, der Eifer und die Weisheit von Frauen ist immer noch die grösste ungenutzte Ressource der Menschheit. Wir können es uns einfach nicht leisten, nochmals 100 Jahre zu warten, um dieses Potenzial freizusetzen.

Über die Autorin: Michelle Bachelet ist die erste Leiterin der UN-Frauen-Organisation UN Women, eine neu gegründete UN-Organisation, die sich der Gleichberechtigung und der weiblichen Emanzipation verschreibt. Sie ist die ehemalige Präsidentin von Chile.

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