Öffentliche Gesundheitstipps zur Ernährung haben gute Absichten, sollten jedoch auf besseren und aktuelleren Erkenntnissen beruhen, um die Öffentlichkeit zu schützen und gesundheitliche Vorteile zu erzielen, wurde auf einer grossen Konferenz postuliert. Bei der in Florenz von der Associazione Nazionale Medici Cardiologi Ospedalieri (italienischer nationaler Verband von Krankenhaus-Kardiologen) abgehaltenen Konferenz kamen führende internationale Experten auf den Gebieten Ernährung und medizinische Forschung zu Wort.

Michele Gulizia, nationaler Präsident der ANMCO (italienischer nationaler Verband von Krankenhaus-Kardiologen) und Direktor der kardiologischen Abteilung des Krankenhauses „Garibaldi-Nesima“ in Catania, Italien, erklärte: „Das Essen ist ein komplexes System: auf der einen Seite bekommt es eine fast krankhafte Aufmerksamkeit in den Medien, auf der anderen Seite sind faktische Informationen über das Essen auf unseren Tischen rar. Die Frage Fett ist ein spezielles Beispiel, denn es wurde in der Vergangenheit oft dämonisiert, und seine korrekte Nutzung wurde erst nach 40 Jahren Medienterrorismus richtiggestellt. Fehlinformationen über unsere Nahrung betreffen auch Kohlenhydrate, Proteine und Diäten zur Gewichtsabnahme, die bestimmte Nährstoffe oder einzelne Elemente ganz weglassen, ohne dass es dafür unterstützende medizinische Nachweise gibt. Diese Art der Berichterstattung hat einen Einfluss auf die Nahrungsauswahl bestimmter Bevölkerungsschichten.“

Ein wichtiger, im Journal of Clinical Epidemiology veröffentlichter Bericht beleuchtet, dass die Empfehlungen der WHO nicht korrekt verbreitet werden: sogar „starke Empfehlungen“ basieren häufig auf Studien, die wenig bis sehr wenig verlässlich sind. In dem Bericht wurden alle WHO-Richtlinien untersucht, die zwischen 2007 und 2012 veröffentlicht wurden, mit dem Resultat, dass 289 von 456 (über 55 %) der als „stark“ eingestuften Empfehlungen auf Studien mit geringer bis sehr geringer Qualität beruhen [(1)] . Es fällt daher schwer zu glauben, dass die auf ihnen basierenden Richtlinien verlässlich sind; die Konsequenzen für die öffentliche Gesundheit sind unsicher. Darüber hinaus gibt die WHO gelegentlich „konditionale“ Empfehlungen heraus, deren vorteilhafte Effekte nicht angegeben oder unbekannt sind. Dies ist eine merkwürdige Situation angesichts der Tatsache, dass auf der Zweiten Internationalen Ernährungskonferenz in Rom im November 2014 alle Mitgliedsstaaten einstimmig beschlossen haben, dass von der World Health Organization herausgegebene Dokumente nur auf den besten verfügbaren Studien und den hochwertigsten wissenschaftlichen Nachweisen beruhen sollen. Ausserdem wäre es angemessener, wenn Empfehlungen auf an mehreren Zentren durchgeführten Beobachtungsstudien basieren würden, die sich spezifisch auf ein Thema beziehen und aktuell sind, um Unstimmigkeiten und Schlussfolgerungen zu vermeiden, die oft die tatsächliche Information falsch wiedergeben. Es sei nur darauf verwiesen, dass die Empfehlungen im letzten Bericht zum Verbrauch von zusätzlichen Zuckern bei Erwachsenen und Kindern auf der Untersuchung von vier Beobachtungsstudien beruhen, die in den 1960er Jahren in Japan zum Thema Karies durchgeführt wurden. Lediglich eine Fussnote unten auf den Seiten gibt an, dass „konditionale“ Empfehlungen verfasst werden, wenn keine Sicherheit über die Balance von Risiken und Vorteilen vorliegt bzw. es keinen Nachteil aus der Akzeptanz der Empfehlung gibt. Ein Grundthema der Konferenz war die Notwendigkeit für mehr Klarheit nach den kürzlichen hochrangigen Diskussionen, ob einzelne Nährstoffe wie saturierte Fette, Zucker und Salz für chronische Zustände wie Übergewicht, Herzkrankheiten und Typ 2-Diabetes verantwortlich gemacht werden können.

Seit der berühmten Sieben-Länder-Studie aus den 1970er Jahren [(2)], in der saturierte Fette für höhere Cholesterinspiegel im Blut und Herzkrankheiten verantwortlich gemacht wurden, haben sich die Nahrungsgewohnheiten in den westlichen Ländern in Richtung Nahrungsmittel mit weniger Fett und Cholesterin entwickelt. Eine Neubewertung der fettarmen Ernährung hat nun zu einem Angriff auf Zucker und andere Kohlenhydrate sowie mehr Konfusion in der Öffentlichkeit als je zuvor geführt. Verschlimmernd wirkt sich aus, dass auch die Wissenschaft nicht einig ist, ob Fette oder Kohlenhydrate schlechter für die Gesundheit sind. Ein Umdenken ist nötig, wie auf der Konferenz in Florenz erklärt wurde.

Vor seiner Präsentation auf der Konferenz kommentierte Professor Dennis Bier aus Houston, USA: „Der Ansatz mit einzelnen Nährstoffen ist zur Definition der biochemischen Reaktion nötig, aber er kann nicht die gesamte menschliche Reaktion auf komplette Diäten mit verschiedenen Nährstoffmustern und komplexen Zutaten erklären.“

Der nachfolgende Redner, Professor Furio Brighenti von der Universität Parma, fügte hinzu: „Die Nahrungsmittelforschung der Zukunft braucht neue und innovative experimentelle Modelle, die – über die biologischen Effekte – hinaus andere Aspekte der menschlichen Ernährung berücksichtigen, wie z.B. psychologische, kulturelle und soziale Aspekte, die letztlich alle etwas mit der Nahrungsauswahl zu tun haben.“

Der Mitvorsitzende der Konferenz, Professor Carlo La Vecchia von der Universität Mailand, sagte: „30 Jahre der ‚Lipid-Phobie‘ erscheinen heute als nicht komplett in Übereinstimmung mit der wissenschaftlichen Realität. Wird sich der aktuelle Trend zur ‚Karbo-Phobie‘ als ebenso irreführend herausstellen? Heutzutage sollte der Schwerpunkt nichtauf der Gesamtmenge der Nährstoffe, sondern der kompletten Zusammensetzung und Qualität der Ernährung liegen.“

1) Alexander et al. – Journal of Cl. Epidem (2013) WHO recommendations are often strong based on low confidence in effect estimates.
2) http://en.wikipedia.org/wiki/Seven_Countries_Study

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