Manipulierte Abrechnungen, gefälschte Rezepte oder Behandlungen, die nur auf dem Papier stattfanden – die Gesundheitsbranche kämpft immer stärker mit Wirtschaftskriminalität in Form von Abrechnungsbetrug. Sowohl die Zahl der aufgedeckten Betrugsdelikte als auch die Schadenshöhe, mit der die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen umgehen müssen, ist in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. So berichten 53 Prozent der gesetzlichen Krankenkassen von mindestens 100 Betrugsfällen aus dem vergangenen Jahr mit einem Gesamtschaden von überwiegend (48 Prozent) mehr als 500.000 Euro. Zum Vergleich: Im Jahr 2012 meldete die Mehrheit (64 Prozent) lediglich bis zu zehn Betrugsdelikte, wobei 54 Prozent über Schäden von maximal 50.000 Euro berichteten.

Noch stärker betroffen sind die privaten Krankenversicherungen: 76 Prozent von ihnen sind im vergangenen Jahr Gesamtschäden von mehr als 500.000 Euro entstanden (2012: 50 Prozent). Das sind zentrale Ergebnisse einer Umfrage der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC zum Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen, bei der sich 19 gesetzliche und 13 private Krankenversicherungen beteiligt haben. Die Untersuchung knüpft an eine Vorgänger-Umfrage aus dem Jahr 2012 an und ermöglicht damit den direkten Vergleich zu einem Themenbereich, zu dem es bislang wenig verlässliches Zahlenmaterial gibt.

84 Prozent bestätigen: Die Dunkelziffer beim Abrechnungsbetrug ist hoch

„Die große Zahl der aufgedeckten Betrugsfälle und die hohen Schadenssummen sind aus unserer Sicht darauf zurückzuführen, dass es den Krankenversicherungen heute weit besser als 2012 gelingt, Betrügereien aufzuklären. Da aber auch das Dunkelfeld weiter angestiegen ist, können sich die Krankenversicherer auf diesem Erfolg nicht ausruhen“, sagt Gunter Lescher, Partner im Bereich Forensic Services bei PwC Deutschland. Gleichzeitig ist aber auch von einer steigenden Anzahl nicht entdeckter Straftaten auszugehen: Die Dunkelziffer bewerten sowohl die gesetzlichen (GKV) als auch die privaten Krankenversicherungen (PKV) mit jeweils 84 Prozent als hoch oder sehr hoch (2012: 63 Prozent GKV, 62 Prozent PKV).

Abrechnungsbetrug hat für das deutsche Gesundheitswesen ernste Folgen: Neben dem wirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe, der den Krankenversicherungen entsteht, belasten die Betrügereien das Vertrauen der Patienten in die Gesundheitsversorgung, verteuern die Kosten von medizinischen Leistungen und verzerren den Wettbewerb. Bei der Ahndung von Abrechnungsbetrug setzen die Krankenversicherungen vor allem auf Regressforderungen. Den Erfolg von Strafanzeigen hingegen bewerten die Studienteilnehmer als vergleichsweise begrenzt.

Die COVID-19-Pandemie kann zum „Brandbeschleuniger“ werden

Durch die aktuelle COVID-19-Pandemie könnte sich das Problem weiter verschärfen. „Wir gehen davon aus, dass COVID-19 sich zu einer Art Brandbeschleuniger entwickeln wird und den Abrechnungsbetrug noch weiter anheizt“, sagt Lescher. Die Pandemie setzt den normalen Geschäftsbetrieb in vielen Einrichtungen des Gesundheitswesens außer Kraft, gleichzeitig ist der finanzielle Druck sowohl aufseiten der Versicherten als auch aufseiten der Leistungserbringer deutlich gestiegen. Hinzu kommt: Die technischen Möglichkeiten, Nachweise für Betrügereien zu fälschen, etwa durch Bildbearbeitung, sind gestiegen. „Digitale Technologien erweisen sich damit als Fluch und Segen zugleich, denn sie erleichtern Prävention und Aufklärung, ermöglichen vielfach aber auch erst den Betrug“, so Lescher.

Bei der GKV stammen die Täter überwiegend aus dem Pflegebereich, bei der PKV aus dem Umfeld der Versicherten

Wer wird zum Täter und begeht Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen? Es gibt zwei Haupttätergruppen, die sich eindeutig identifizieren lassen: Bei den gesetzlichen Krankenkassen stammen die Täter ähnlich wie bei der Vergleichsbefragung 2012 vor allem aus dem Umfeld der Pflege (Pflegedienst: 95 Prozent, häuslicher Krankenpfleger: 68 Prozent), während es bei den privaten Krankenversicherungen die Versicherten selbst sind, die in Abrechnungsdelikte involviert sind (100 Prozent). Privat Versicherte haben leichter die Chance dazu, weil sie die meisten Leistungen direkt mit ihrer Krankenversicherung abrechnen. Überraschend ist, dass aus Sicht der Krankenversicherungen Kliniken nur eine untergeordnete Rolle beim Thema Betrug spielen, obwohl stationäre Leistungen mit rund 30 Prozent einen der größten Kostenblöcke darstellen.

Bei der Aufdeckung spielen Hinweise von außen eine große Rolle

Die beiden größten Tätergruppen sind bekannt – dennoch gibt es Handlungsbedarf in puncto Betrugserkennung: Die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen verlassen sich zu stark auf Hinweise von außen und vernachlässigen dabei eigene Kontrollsysteme. Hinweisgeber sind bei den gesetzlichen Krankenkassen vor allem andere Kassen, Verbände oder die Polizei, während private Krankenversicherungen auf Staatsanwaltschaft und Polizei als Hauptinformationsquellen setzen. Der Zufall spielt bei der Aufdeckung somit eine große Rolle. „Um Hinweise auf Abrechnungsbetrug selbständig und frühzeitig zu erkennen, sollten die Krankenversicherer ihre Kontrollsysteme optimieren“, sagt Mathias Röcker, Leiter Insurance bei PwC Deutschland.

Immerhin haben die Krankenversicherungen ihre Anstrengungen seit 2012 intensiviert und personell aufgestockt: Wie bei den gesetzlichen Krankenkassen vorgeschrieben, hat sich auch in der PKV die Einrichtung von spezialisierten Stellen zum Kampf gegen Abrechnungsbetrug etabliert. Die privaten Krankenversicherungen beschäftigen derzeit im Schnitt 4,1 Vollzeitkräfte (2012: 3,8 Vollzeitkräfte) und damit etwa eine Person mehr als die gesetzlichen Krankenversicherungen, die aber ebenfalls aufgestockt haben (3,0 Vollzeitkräfte, 2012: 1,4 Vollzeitkräfte).

Gesetzliche Krankenkassen bei digitalen Datenanalysen abgehängt

Trotz dieser verbesserten personellen Ausstattung gehen die Krankenversicherungen Hinweisen auf Straftaten nicht immer konsequent nach: Insbesondere bei der GKV hat die Bereitschaft, alle Hinweise zu verfolgen, spürbar nachgelassen und ist auf 53 Prozent gesunken (2012: 73 Prozent), während bei der PKV nahezu unverändert drei Viertel der Krankenkassen allen Hinweisen nachgehen. Insgesamt zeigt sich, dass die privaten Krankenversicherungen Abrechnungsbetrug entschiedener bekämpfen. Gerade beim Einsatz digitaler Technologien zur Aufklärung sind sie den gesetzlichen Krankenkassen überlegen: In der PKV setzen bereits 92 Prozent der Unternehmen klassische Datenanalysemethoden ein – diese Chance nutzen unter den gesetzlichen Krankenkassen nur 37 Prozent. Compliance-Management-Systeme zur Bekämpfung von Abrechnungsbetrug sind allerdings bei beiden Versicherungsarten bislang nur wenig verbreitet (GKV: 11 Prozent, PKV: 46 Prozent). „Bei der Bekämpfung von Abrechnungsbetrug im deutschen Gesundheitswesen gibt es angesichts der hohen Dunkelziffer noch erheblichen Weiterentwicklungsbedarf“, bilanziert Michael Burkhart, Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft bei PwC Deutschland. Gunter Lescher ergänzt: „Umso wichtiger ist es, mit einem ausgewogenen Ansatz zu reagieren: einem Betrugsmanagement, das in das unternehmensweite Compliance-Management-System integriert ist.“

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