Trotz mehrerer Urteile des Bundessozialgerichts vom Sommer 2014 verweigert das Bundessozialministerium (BMAS) nach wie vor erwachsenen Menschen mit Behinderung, die von Angehörigen betreut werden, die volle Grundsicherung. Das geht aus einer aktuellen Antwort des von Andrea Nahles (SPD) geführten Ministeriums an das ARD-Politikmagazin „Report Mainz“ des Südwestrundfunks hervor. Darin heißt es, „dass das BMAS die Auffassung des Achten Senats (des Bundessozialgerichtes) nicht teilt“. Dies hat zur Folge, dass Betroffene derzeit Monat für Monat auf rund 80 Euro verzichten müssen. Für viele der schätzungsweise rund 40.000 betroffenen Familien eine enorme Summe, da die betreuenden Angehörigen häufig ihre Berufe nur eingeschränkt ausüben können oder sogar aufgeben mussten.
Hintergrund ist eine vom Bundestag 2011 beschlossene Gesetzesänderung und die Neugestaltung so genannter Regelbedarfsstufen im Hartz-IV-System und in der Grundsicherung. Diese hat zur Folge, dass Menschen mit Behinderung, die von Angehörigen, vorwiegend Eltern, betreut werden, nur 80 Prozent der Grundsicherung (voller Satz gegenwärtig 399 Euro) erhalten. Die Sozialrechtlerin Prof. Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt, ausgewiesene Kommentatorin der Sozialgesetzgebung, hält die seit vier Jahren gültige Kürzung für einen verfassungswidrigen Zustand: „Ich sehe in dieser gesetzlichen Regelung eine ganz klare Diskriminierung von volljährigen Behinderten, von denen immer angenommen wird, dass sie in keiner Weise zur Haushaltsführung beitragen können und die gesetzliche Regelung versetzt sie auch in genau diese Situation, dass sie das nicht können, weil sie haben das Geld ja nicht zur Verfügung.“
In diesem Sinn hat auch das Bundessozialgericht in Kassel im Sommer 2014 entschieden. Die bisherige Kürzung, so die Richter in drei Grundsatzurteilen (AZ: B 8 SO 14/13 R, B 8 SO 31/12 R, B 8 SO 12/13 R) verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz und gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Folglich stehe Erwachsenen mit Behinderung, die bei ihren Angehörigen leben, die volle Grundsicherung zu.
Das Bundessozialministerium, das die Kosten übernehmen und den Bundesländern entsprechende Anweisungen zur Auszahlung des vollen Existenzminimums erteilen müsste, weigert sich bisher jedoch, die Urteile umzusetzen. Begründet wird das unter anderem damit, dass die Kosten des Haushaltes überwiegend von den Eltern oder Angehörigen der erwachsenen Menschen mit Behinderung getragen würden. Hinter den Kulissen, so haben Recherchen von „Report Mainz“ außerdem ergeben, fährt das Ministerium eine noch härtere Linie: Bei einer internen Besprechung des Ministeriums mit den Ländern am 21. Januar 2015 im BMAS wurden die Bundesländer angewiesen, die Urteile nicht umzusetzen. Länder wie Hamburg, die dafür schon alles in die Wege geleitet hatten, haben daraufhin die Umsetzung auf Eis gelegt.
Vor diesem Hintergrund wird das Vorgehen des BMAS aus den eigenen Reihen der Koalition heftig kritisiert. Die ehemalige SPD-Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, heute Vizepräsidentin des Bundestages und Bundesvorsitzende der „Lebenshilfe“, fordert eine schnelle Umsetzung des Urteils. Dem ARD-Politikmagazin „Report Mainz“ sagte sie: „Was ich erwarte ist, dass das so zügig wie möglich geht und dass das nicht auf die lange Bank geschoben wird, erst in ein oder zwei Jahren, sondern, dass wir da von Seiten des Parlamentes auch Druck machen.“ Auch der ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU), sieht das BMAS und vor allem Andrea Nahles jetzt in der Pflicht: „Da muss eigentlich auch die Ministerin, Frau Nahles, eingreifen und sagen: ‚So geht das nicht‘. Also da steht auch die Glaubwürdigkeit des Ministeriums auf dem Spiel. Da muss die Ministerin ran“, sagte er „Report Mainz“.
Bundessozialministerin Andrea Nahles war zu keinem Interview mit „Report Mainz“ bereit. Aus einem Rundschreiben an die obersten Landessozialbehörden vom 16. Februar 2015 geht hervor, dass das Bundessozialministerium Ende März abschließend entscheiden will, wie es mit den Urteilen des BSG umgeht. Am kommenden Mittwoch, 18. März 2015, wird das Thema zudem auf der Tagesordnung des Sozialausschusses des Bundestages stehen.