Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern gibt es in Deutschland einen hohen Anteil von Kindern, die zu Beginn der Schulzeit auf einem oder beiden Augen nicht gut sehen. Das belegen Daten der Schuleingangsuntersuchungen (SEU) des Landes Rheinland-Pfalz aus den Jahrgängen 2009/2010 bis 2014/2015. 5,1 Prozent der Kinder hatten eine Sehschärfe von weniger als 0,7; bei 2,3 Prozent der Kinder betraf dies beide Augen.

Was Hänschen nicht sehen lernt…

Augenvorsorgeuntersuchungen im Kindesalter sollen visuelle Störungen früh erkennen. Insbesondere eine Amblyopie, eine meist einseitige Sehschwäche, die in der frühen Kindheit entsteht, soll so aufgedeckt und zeitnah behandelt werden. Eine Amblyopie ist die häufigste Ursache für eine reduzierte Sehschärfe bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie entsteht in der frühen Kindheit. In dieser Phase entwickelt sich das Sehen als komplexes Zusammenspiel von Auge und Gehirn. Störende Einflüsse wie Schielen oder eine Anisometropie können diese Entwicklung behindern. Bei einer Anisometropie unterscheidet sich die Brechkraft beider Augen – so kann eines kurzsichtig, das andere dagegen weitsichtig sein. Dann liefern beide Augen unterschiedliche Bilder, die im Gehirn nicht zu einem Seheindruck verarbeitet werden können. In der Folge unterdrückt das Gehirn den Seheindruck des schwächeren Auges, das Auge wird amblyop. Wird dies rechtzeitig erkannt, kann man die Amblyopie behandeln: Zunächst werden Refraktionsfehler ausgeglichen. In vielen Fällen wird das bessere Auge des Kindes für einige Stunden des Tages mit einem Pflaster abgeklebt, so dass das Gehirn lernt, den Seheindruck des zweiten Auges zu verarbeiten. Diese Behandlung sollte im Vorschulalter beginnen. Je älter das Kind wird, desto geringer sind die Aussichten, eine Amblyopie noch zu beheben.

Augenärztliche Vorsorgeuntersuchungen nicht im Leistungskatalog der Kassen

5,6 Prozent der Erwachsenen im Alter von 35 bis 44 Jahren in Deutschland sind amblyop. In Schweden sind es dagegen nur 1,1 Prozent, in Dänemark 1,4 Prozent. In beiden Ländern werden Vorschulkinder seit langem auf die Gesundheit ihrer Augen hin untersucht. In Deutschland gehört eine augenärztliche Vorsorgeuntersuchung für Kinder bisher nicht zum festen Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) fand 2007 keinen Beleg für einen Nutzen einer solchen Untersuchung. Diese Einschätzung wurde 2015 in einem „rapid report“ bestätigt.

Sehtests im Rahmen der U7a, U8 und U9

Sehtests finden in Deutschland im Rahmen der von Kinder- und Jugendärzten oder von Hausärzten ausgeführten Kindervorsorgeuntersuchungen U7a (zum Ende des dritten Lebensjahres), U8 (am Ende des vierten Lebensjahres) und U9 (zu Beginn des sechsten Lebensjahres) statt. Bei allen Kindervorsorgeuntersuchungen ist eine Inspektion der Augen vorgesehen. Alle Kinder werden zudem im Jahr vor der Einschulung vom kinder- und jugendärztlichen Dienst der Gesundheitsämter untersucht. Teil dieser SEU ist auch ein Sehtest. Anhand der Daten aus den SEU der Jahrgänge 2009/2010 bis 2014/2015 wurde untersucht, welcher Zusammenhang zwischen der Teilnahme an den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen und der bei der SEU gemessenen Sehschärfe besteht. Die U7a wurde erst 2008 in den GKV-Leistungskatalog aufgenommen. Hier war daher zusätzlich eine Beobachtung der Verhältnisse vor und nach der Einführung möglich.

Untersuchungsergebnisse von mehr als 165.000 Kindern analysiert

In die Analyse konnten die Untersuchungsergebnisse von mehr als 165.000 Kindern aufgenommen werden. 6,8 Prozent der Kinder trugen zum Zeitpunkt der SEU eine Brille, 25,9 Prozent waren vorher mindestens einmal bei einem Augenarzt gewesen.

Bei 5,1 Prozent der Kinder wurde eine Sehschärfe unter 0,7 festgestellt. Von Schuljahr zu Schuljahr gab es Schwankungen; am höchsten war der Wert im Schuljahr 2014/15 mit 5,9 Prozent. Der Anteil der Kinder, die an allen empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen teilnahmen, stieg von Jahr zu Jahr an von 74,35 Prozent im Jahrgang 2009/2010 auf 89,93 Prozent im Jahrgang 2014/15. Es erscheint paradox, dass in dem Jahr mit der höchsten Teilnahmequote an den Vorsorgeuntersuchungen auch der Anteil der Kinder mit schlechtem Sehen am höchsten war.

Kinder, die an der U8 und U9 teilgenommen hatten, hatten eine bessere Chance für eine gute Sehschärfe bei der SEU. Die Nichtteilnahme an der U8 oder der U9 erhöht das Risiko einer reduzierten Sehschärfe vor Schulbeginn um rund ein Drittel. Kinder, die keine der beiden Untersuchungen erhielten, hatten ein doppelt so hohes Risiko.

Die U7a hatte dagegen keinen Einfluss auf den Anteil der Kinder, die bei der SEU eine Sehschärfe von weniger als 0,7 aufwiesen. Die fehlende Wirksamkeit der U7a ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die Kinder kurz vor dem Ende des dritten Lebensjahres noch nicht fähig zur notwendigen Mitarbeit sind. Bei etwa der Hälfte der Kinder, die vor Schulbeginn einen Visus von weniger als 0,7 aufweisen, ist nur ein Auge betroffen. Diese Einschränkung fällt im Alltag normalerweise nicht auf, weil das zweite Auge die Sehschwäche kompensieren kann. Nur mit einem korrekt ausgeführten monokularen Sehtest, bei dem jedes Auge getrennt getestet wird, fällt eine solche einseitige Schwäche auf. Ist ein solcher monokularer Test nicht möglich, muss das Ergebnis in Zweifel gezogen werden. Eine weitere Untersuchungsmethode, die für alle kinderärztlichen Augenuntersuchungen empfehlenswert ist, ist der Brückner-Test, bei dem der rote Fundusreflex in der Pupille mit einem Ophthalmoskop geprüft wird.

Zahlen aus dem europäischen Ausland

Studien aus dem europäischen Ausland können wegen verschiedener Methoden und eines anderen Alters der Kinder zum Untersuchungszeitpunkt nur eingeschränkt zum Vergleich mit den deutschen Daten herangezogen werden. Dennoch scheint die Prävalenz der Vorschulkinder mit eingeschränktem Sehvermögen in Deutschland hoch zu sein. In den Niederlanden fand man bei einer Kohorten-Studie mit sieben Jahre alten Kindern nur bei 1,6 Prozent einen Visus von 0,63 oder schlechter (3). In den Niederlanden erhalten Kinder fünf Augenuntersuchungen in den ersten beiden Lebensjahren.

Eine britische Studie verglich die Sehschärfe bei siebeneinhalb Jahre alten Kindern, die ein Sehscreening mit vier bis fünf Jahren erhalten hatten mit solchen, die nicht gescreent wurden. Nach einem Screening lag der Anteil der Kinder mit einer Sehschärfe unter 0,67 bei 1,9 Prozent. Bei denen, die kein Screening erhalten hatte, lag der Anteil bei 3,4 Prozent.

Diese europäischen Daten zeigen eine positive Auswirkung einer angemessenen frühen Augenvorsorgeuntersuchung. Die Vorsorgeuntersuchungen in Deutschland scheinen diesen Effekt nicht zu haben. Allerdings unterscheiden sich die Untersuchungsmethoden und diagnostischen Kriterien stark von Land zu Land. Es gibt auch große Unterschiede bei den Berufsgruppen, deren Mitglieder das Screening ausführen.

Fazit

Augenvorsorgeuntersuchungen in der frühen Kindheit sind wichtig, um eine einseitige Sehschwäche früh zu erkennen. Denn wenn sie nicht erkannt und nicht rechtzeitig behandelt wird, droht eine lebenslange Beeinträchtigung des Sehvermögens. In Deutschland gibt es bei der SEU einen vergleichsweise hohen Anteil von Kindern mit reduzierter Sehschärfe. 5,1 Prozent der Kinder haben einen Visus von weniger als 0,7, bei gut der Hälfte von ihnen sind beide Augen betroffen.

PD Dr. Heike M. Elflein, Augenklinik und Poliklinik, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

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