Meditieren, Yoga, gesund ernähren, Schritte zählen… – viele Menschen optimieren sich und ihr Leben bis zur Perfektion. Und doch tritt die gewünschte Entspannung und das Gefühl von mehr Lebensqualität oftmals nicht ein. Woran liegt das? Petra Meibert, Diplom-Psychologin und therapeutische Leitung der Oberberg Tagesklinik Essen spricht über das Phänomen der „Überoptimierung“, was achtsames Leben wirklich bedeutet und wie Achtsamkeit in der Therapie zum Einsatz kommen kann.

Auf der Überholspur sich selbst verlieren

Jeder Tag ist optimal strukturiert – für jeden freien Zeit-Slot gibt es eine App. Selbst die Me-time ist optimal durchgetaktet. „Wir leben in einer Kultur der sozialen Beschleunigung, „Social Acceleration“. Wachstum, Ausdehnung, Weiterentwicklung scheinen auch auf persönlicher Ebene eine Notwendigkeit geworden zu sein, um mithalten zu können. Das alles geschieht vor dem Hintergrund des Wunsches, sich mit den Mitmenschen verbunden zu fühlen – eines der wichtigsten Motive und Bedürfnisse des Menschen. Doch anstatt Zugehörigkeit zu erleben, entwickelt der Mensch häufig ein Gefühl der Entfremdung“, erklärt die Diplom-Psychologin Petra Meibert. Statt die Nähe zu den Mitmenschen im Moment bewusst zu erleben, beschäftigen sich viele Menschen eher mit der abstrakten Planung einer imaginären Zukunft. Die Gegenwart wird genutzt, um sich auf etwas in der Ferne Liegendes optimal vorzubereiten. So werden zum Beispiel ToDo-Listen abgearbeitet und Sport gemacht, um fitter zu werden und somit die Arbeitsbelastung besser stemmen zu können, oder um attraktiver zu sein, um bei der Partnerwahl besser dazustehen. Hinter jeder Handlung steht eine „um-zu“-Haltung.

Muße – Zeitverschwendung oder Notwendigkeit?

„Einen zweckfreien Zugang zur unmittelbaren Erfahrung eines Augenblicks scheinen viele Menschen verlernt zu haben. ‚Muße‘ und ‚zweckfreie Zeit‘ sind Fremdworte geworden. Anstatt einen Spaziergang zu machen, um zu gehen, sich zu bewegen, in seinem Körper zu sein und sich selbst zu fühlen, wird jede kleine Pause mit neuen Aufgaben gefüllt. Durch diese ständige innere Getriebenheit entsteht häufig ein mehr oder weniger diffuses Gefühl von gestresst sein“, so Meibert weiter. Besteht dauerhaft Stress, kann das krank machen. Diabetes, Magengeschwüre oder Herzrhythmusstörungen können Folgen sein. Aber auch psychische Erkrankungen wie Depression oder Angsterkrankungen können sich entwickeln. Das kann damit zusammenhängen, dass durch diese Optimierungsversuche ein darunter liegendes Gefühl des „Nicht-Gut-Genug-Seins“ kompensiert werden soll. Dies gelingt aber in vielen Fällen nicht oder nur bedingt, wodurch das Gefühl, es nicht geschafft zu haben, verstärkt wird. Dies hat dann noch mehr Anstrengung, „es besser zu machen“ zur Folge und führt in einen dysfunktionalen Teufelskreis.

Achtsamkeitsbasierte Therapien

Achtsamkeitsbasierte Ansätze bieten eine Alternative zu diesem ziel- und optimierungsorientierten Sein in der Welt. Durch die Schulung von Achtsamkeit lernen Patientinnen und Patienten ihr Stresslevel erfolgreich zu senken. Im Fokus steht, bewusst wahrzunehmen, was im gegenwärtigen Moment ist, ohne darüber zu urteilen. Dies führt dazu, dass die dysfunktionalen Muster besser erkannt und durch eine bewusste Entscheidung ersetzt werden können. Langfristig soll auf diesem Weg die mentale Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gestärkt werden und eine frühe Abgrenzung zu Stress und Überforderung stattfinden. Auch wenn Achtsamkeitsbasierte Ansätze ihre wesentlichen Wurzeln in der fernöstlichen Meditationskultur haben, ist das MBSR-Training mittlerweile gut erforscht. Als Zusatzmodul von spezifischen Psychotherapieverfahren bei der Behandlung von Depression, Angststörungen sowie Stress- und Traumafolgestörungen kann es wirksam eingesetzt werden. Achtsamkeitsbasierte Verfahren und achtsamkeitsbasierte Psychotherapiekonzepte wie Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR), Mindfulness-based Cognitive Therapy (MBCT), Mindfulness-based Relapse Prevention (MBRP) können Menschen helfen, die bereits erkrankt sind oder Gefahr laufen, aufgrund von andauerndem Stress zu erkranken.

Achtsamkeitsübung für den Alltag

„Präventiv kann es durchaus interessant sein zu reflektieren, was eigene Werte sind und welche Werte, die von der Gesellschaft vorgegeben werden, wie selbstverständlich ins eigene Leben übernommen werden. Spezielle Achtsamkeitsübungen und eine innere Haltung der Achtsamkeit führen allmählich zu einem Sein-orientierten Zugang zur Welt“, sagt Petra Meibert.

Eine Übung, die gut zu Hause praktiziert werden kann und die die Achtsamkeit schult, ist der „Body Scan“. Dabei geht es darum, das Körperbewusstsein zu verbessern. In der Übung geht man mit der Aufmerksamkeit im Sitzen oder Liegen bewusst durch den Körper und erforscht dort die Empfindungen. Jedes Körperteil wird über eine bestimmte Zeit – Sekunden bis Minuten – aufmerksam wahrgenommen. Auch die Atmung oder der Herzschlag können bewusst empfunden werden – immer mit einer offenen und zugewandten Haltung. Jeder Gedanke, jede Emotion, jede Regung ist willkommen, wird bewusst wahrgenommen, aber nicht festgehalten. Der Körper und alle seine Regungen werden in ihrer Gesamtheit erforscht. Häufig empfinden Menschen eine tiefe Entspannung, die Gedanken beruhigen sich, der Körper fühlt sich warm an.

Gleichzeitig lernt man in der Übung aber auch, wie man mit Unruhe umgeht, ohne sie sofort zu bekämpfen, was noch mehr Unruhe hervorruft. Dies ist wichtig, wenn es um die Anwendung von Achtsamkeit bei psychischen Problemen oder anderen Erkrankungen geht, denn es stellt sich nicht immer gleich Entspannung ein, wenn man den Body Scan macht. Um dies zu lernen ist eine professionelle Begleitung bei den Übungen hilfreich und, wenn schwerwiegendere Probleme bestehen, unerlässlich.

Durch regelmäßiges Achtsamkeitstraining können Stress und seine möglichen negativen Folgen für Körper und Geist reduziert werden und für den Moment zu Entspannung und Zufriedenheit führen.

Neben der therapeutischen Leitung der Oberberg Tagesklinik Essen ist Frau Petra Meibert auch Expertin und Buch-Autorin für das Thema „Achtsamkeitsbasierte Therapien“. Sie ist als MBSR und MBCT Therapeutin, Ausbilderin und Supervisorin für Achtsamkeitsbasierte Therapieverfahren und zudem als Leitung des Achtsamkeitsinstituts Ruhr tätig.

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