Die Folgen der Corona-Pandemie führen bis heute zu psychischen Belastungen bei fast drei Viertel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Zu diesem Ergebnis kam der Abschlussbericht „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ einer Interministeriellen Arbeitsgruppe aus Bundesfamilienministerium und Bundesgesundheitsministerium. Die Kommission empfiehlt der Politik, insbesondere sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche stärker zu unterstützen: „Der Bericht macht wissenschaftlich fundiert deutlich, welche Bedarfe es bei Kindern und Jugendlichen in Folge der Pandemie-Jahre gibt. Ein großer Schwerpunkt ist der Bereich Mental Health, was ich aus meiner beruflichen Praxis nur unterstützen kann“, erklärt Karolin Kroggel, Schulsozialarbeiterin bei SOS-Kinderdorf Berlin. Sie wurde als Expertin zu diesem Thema auch im zuständigen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gehört. „Schule muss nach der Pandemie völlig neu gedacht werden. Die Kinder wieder ans Lernen zu gewöhnen ist sehr schwierig. Viele fühlen sich abgehängt und leiden unter Verhaltensauffälligkeiten.“
Wo liegen die größten Bedarfe für junge Menschen nach Corona?
Karolin Kroggel: Aktuell geht es bei einigen Kindern und Jugendlichen weniger um Lücken in Schulfächern oder Bildungsdefizite, als vielmehr darum, deren psychische Gesundheit wieder herzustellen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie wieder einen Schutzraum haben, in dem sie Erfolge sammeln können, in dem sie gemäß ihrer Bedürfnisse individuell gefördert werden. Und das passiert gerade nicht überall. Ich beschreibe das den Kindern als eine Art Nebel, in dem sie sich bewegen.
Können Sie das genauer erklären?
Wie sollen Grundschulkinder, die psychisch nicht stabil sind, das Einmaleins lernen? Erst muss sich dieser Nebel lichten, um an etwas anknüpfen zu können. Die Wissenschaft bestätigt, dass vor allem Kinder aus bildungsarmen Familien betroffen sind.
Sie plädieren in diesem Zusammenhang für die Stärkung der Psychohygiene
Richtig. Hygienemaßnahmen waren während Corona überall präsent. Aber von Maßnahmen zum Schutz der psychischen Gesundheit von Kindern war kaum die Rede. Corona hat mit den Kindern viel gemacht, sie fühlten sich benachteiligt und stark verunsichert, weil vieles verboten war. Viele junge Menschen leiden seither unter Angststörungen, Depressionen oder diversen Verhaltensauffälligkeiten. Zur Gesundheit gehört auch Resilienz, sprich Achtsamkeit und Reichtum sich selbst gegenüber. Dort gibt es genauso Förderbedarf.
Wie hat sich der Schulalltag seit Corona verändert?
In der ersten Zeit nach den Lockdowns und Schulschließungen war die Kommunikation untereinander ziemlich aggressiv. Unsere Themen waren daher Gewaltprävention und auch gewaltfreie Kommunikation. Viele Kinder und Jugendliche hatten Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu benennen. Wir haben auch verstärkt Identitätskrisen bemerkt, vor allem bei Mädchen, die sich zum Beispiel nicht mehr getraut haben, die Masken abzunehmen, weil sie sich ohne hässlich fühlten.
Und aktuell?
Aktuell bemerke ich sehr viel schul-distanziertes Verhalten, sprich, die Kinder und Jugendlichen wollen nicht lernen. Sie haben Angst davor, den Lernstoff nicht zu verstehen. Die Kinder wieder ans Lernen zu gewöhnen, ist schwierig. Auch die Beratung von Lehrkräften und Quereinsteiger*innen hat zugenommen, viele fühlen sich überfordert.
Welche Bedeutung messen Sie dem schulischen Klima zu?
Eine extrem hohe. Kinder sehnen sich nach coolen Chill-Ecken und sie vermissen diese wunderbaren Momente, mal gemeinsam abseits des Schulalltags auf einem Weihnachtsbasar im Schulhof zu stehen. Das Gemeinschaftsgefühl ist durch Corona verloren gegangen und viele Schulen tun zu wenig dafür, dies wieder herzustellen. Das würde den Kindern das Gefühl geben, dass sie beteiligt werden und ihren Raum mitgestalten dürfen.
Wie können kurzfristige Hilfsangebote aussehen?
Niedrigschwellige Hilfen können zum Beispiel von der Schulpsychologie kommen – und zwar an der Schule oder der Kita. Zuerst müssen die Kinder, die Bedarfe haben, benannt werden und dafür brauchen wir Fachkräfte, die sie im Blick haben und dann Diagnosen stellen. Selbst Kinder oder Jugendliche mit suizidalen Gedanken haben keine Möglichkeiten, schnell einen Therapieplatz zu finden, daher müssen wir verlässlich überbrücken. Ich selbst habe gute Erfahrungen damit gemacht, Kindern und Jugendlichen oder deren Eltern in Erziehungs- und Familienberatungen zu vermitteln, zum Beispiel Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Das ist für den Übergang zu einer Therapie erstmal besser als nichts.
Das Bundesfamilienministerium startet 2023 das Modellprogramm „Mental Health Coaches“ an Schulen. Ein guter Schritt?
Absolut. Vor allem, wenn wir Strukturen nutzen, die bereits vorhanden sind. Warum sucht man nicht Schulsozialarbeiter*innen, denen man eine solche Ausbildung anbietet und finanziert? Dadurch gibt man Fachkräften einen Anreiz, eine Stelle anzunehmen und gleichzeitig nutzt man Strukturen, die es eh schon gibt. Ich weiß nicht, wie sinnvoll es ist, einen Mental Health Coach für fünf Schulen zu haben. Mental Health hat schließlich etwas mit Vertrauen und Beziehungsarbeit zu tun.
Was müsste sich langfristig in unserem Schulsystem ändern?
Schule muss völlig neu gedacht werden. Wir müssen viel mehr fächerübergreifend und projektbezogen arbeiten, mit Expert*innen aus unterschiedlichen Professionen. Es wäre eine deutliche Entlastung, wenn Fachkräfte aus Bereichen wie IT, Psychologie, Handwerk oder Grafikdesign in den Schulalltag miteinbezogen oder Kaufleute aus Führungsetagen die Schulleitungen entlasten würden. Wir müssen multiprofessioneller und interdisziplinärer denken.
Dem Lehrermangel würde dieses Modell obendrein entgegenwirken
Das ist Teil meines Ansatzes. Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Arbeitsbedingungen für die Fachkräfte so aufgestellt werden, dass diese auch wieder Spaß an ihrer Arbeit haben. Viele Lehrkräfte sind schlichtweg überlastet. Sie haben hohe Ansprüche und merken, dass sie es nicht schaffen, die Kinder zu fördern und ihrer hohen Verantwortung gerecht zu werden.
Abschlussfrage: Ihr persönlicher Wunsch für die Schule von morgen?
Ich wünsche mir, dass Kinder und Jugendliche gern zur Schule gehen und Freude am Lernen haben, weil sie merken, dass man dort gesehen wird, selbstwirksamer werden kann, Freunde findet. Dazu müssen Lerngruppen kleiner werden, aber das ist nur einer von vielen Bedarfen. Am Ende sollten doch wir Erwachsenen den Kindern und Jugendlichen eine Stimme geben, um auf diese Frage zu antworten.