Die Redewendung „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ ist den meisten Menschen wohl geläufig. Aber ist Schweigen tatsächlich die Königsdisziplin im Umgang mit anderen? Dr. med. Hannes Horter, Chefarzt der Oberberg Fachklinik Weserbergland und der Oberberg Tagesklinik Hannover, informiert über die Wirkung des Schweigens auf andere und die Gefahr der missbräuchlichen Verwendung.
Wann Schweigen guttun kann
„Sicherlich kann es in manchen Situationen sinnvoll sein, zu schweigen, sein Gegenüber aussprechen zu lassen, nicht alles zu kommentieren und mit der eigenen Meinung zu versehen“, sagt Dr. Horter. Auch im Umgang mit Problemen kann es ungünstig sein, unentwegt über die vermeintliche Unlösbarkeit der eigenen Situation zu klagen und sich gedanklich immer wieder im Kreis zu drehen – im Bereich der lösungsorientierten Therapie spricht man auch von „Problemtrance“. Hier gilt es, in die Veränderung, ins Handeln, zu kommen.
„Gerade in unserer Zeit, wo wir vielen Situationen der Reizüberflutung ausgesetzt sind, suchen Menschen wieder vermehrt Kontakt zu Formen von Meditation oder Achtsamkeit, um sich mehr mit sich auseinanderzusetzen. Hier kann das Schweigen sogar besonders heilsam sein“, weiß der Experte.
Weniger klar ist das Thema Schweigen im Bereich der Traumatherapie. Hier gibt es Ansätze, die besagen, dass es nicht immer hilfreich ist, über schreckliche Erlebnisse wiederholt zu sprechen. Insbesondere dann, wenn die Fokussierung auf Negativem, Destruktivem liegt. Hier braucht man soziale Unterstützung und eine professionelle Begleitung. In manchen Phasen der Verarbeitung tut Schweigen besser als zu reden, während es in anderen Situationen keine Alternative dazu gibt, auch schmerzhafte Erfahrungen zu reflektieren.
Wenn das Gegenüber schweigt
Nach dem Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick kann man nicht nicht kommunizieren – auch Schweigen kann zuweilen eine sehr aggressive Form der Kommunikation darstellen. Zwar kann Schweigen positiv wahrgenommen werden – als stille Zustimmung zum Beispiel. Doch wird Schweigen im Rahmen eines Konfliktes bewusst eingesetzt, hat es meist eine negative Konnotation und kann ein Gefühl des Ausgestoßenseins, der Zurückweisung und Verunsicherung beim Gegenüber hervorrufen. „Wird Schweigen in zwischenmenschlichen Beziehungen gezielt eingesetzt, um sein Gegenüber zu zermürben, zum Beispiel wenn der eigene Wille durchgesetzt werden soll, kann man von emotionalem Missbrauch sprechen“, so der Experte. Toxisches Schweigen oder Silent Treatment können langfristige Folgen für Betroffene haben: Mangelndes Selbstvertrauen, Minderwertigkeitskomplexe, innere Anspannung und Unruhe oder Depressionen sind einige Beispiele. Wird Menschen der Austausch verwehrt, scheint das für ihre Psyche sogar belastender zu sein, als eine negative Antwort oder Rückmeldung.
Eine ähnliche Form des Nichtantwortens ist das Ghosting – das Nicht-mehr-Erreichbar-Sein und Nicht-Reagieren. Vor allem im Bereich von Online-Dating ist das Phänomen aufgetaucht. „Im Grunde ist jede Form von plötzlichem Kontaktabbruch ohne ersichtlichen Grund eine Form von Ghosting. Und ebenso wie das Schweigen hinterlässt es bei Betroffenen negative Gefühle bis hin zu seelischen Wunden“, erklärt Dr. Horter.
Warum Menschen schweigen oder ghosten
Sein Gegenüber mit Schweigen zu bestrafen, kommt zum Beispiel bei Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung vor. Sobald nicht das gesagt, gedacht oder getan wird, was die Person für richtig hält oder wünscht, wird derjenige oder diejenige mit Missachtung und Ignoranz „bestraft“. Narzisstische Menschen schweigen, um Druck auszuüben, den eigenen Willen durchzusetzen und den anderen Menschen zu manipulieren und zu kontrollieren.
Auch beim Ghosting steht oft die Unfähigkeit im Fokus, Konflikte mit dem Mitmenschen zu klären. Statt das direkte Gespräch und den Austausch zu suchen, wird hier der schweigende Rückzug gewählt, der zunächst leichter erscheint. „Wer an sich feststellt, dass er oder sie Beziehungen immer wieder plötzlich aufgibt, ohne das bestehende Problem oder den Konflikt zu lösen, sollte das Verhalten überdenken und ggf. den Austausch mit einer Expertin oder einem Experten suchen“, rät Dr. Horter. Denn diese Form von Konfliktvermeidungsverhalten kann langfristig einsam machen. Auch von narzisstischen Menschen wird Ghosting häufig als Fortführung des Schweigens eingesetzt.
Was Betroffene tun können
Von toxischem Schweigen oder Ghosting Betroffene können sich zunächst bewusst machen, dass das Schweigen oder Nichtbeachten mehr mit dem Gegenüber zu tun hat als mit ihnen selbst, dass sie wahrscheinlich keine Fehler gemacht haben, die das Verhalten begründen und erst recht nicht rechtfertigen würden. Menschen, die sich in einer Beziehung befinden, in der Schweigen als ständiges Mittel eingesetzt wird, tun gut daran, sich professionelle Hilfe zu suchen. Abgrenzung, Selbstfürsorge und Austausch mit Expertinnen oder Experten sind einige wichtige Bausteine im Prozess des Loslösens. „Bemerken Betroffene außerdem, dass sie sich sozial zurückziehen, keinen Weg aus den Grübelgedanken finden oder dauerhaft niedergeschlagen bis depressiv sind, ist ärztlicher Rat zu empfehlen“, rät der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Horter, der im Rahmen des ganzheitlichen Therapieansatzes regelmäßig mit seinen Patientinnen und Patienten an problematischen oder sogar toxischen Beziehungsmustern arbeitet, da diese hinter vielen psychischen Erkrankungen stehen. Dazu kann auch gehören, dass Partnerinnen oder Partner oder Angehörige unter Einbeziehung von systemischen Behandlungsansätzen zu gemeinsamen Therapiesitzungen eingeladen werden. Ein besonderes Augenmerk liegt hier auf dem Thema der Co-Abhängigkeit, das eng mit dem Thema toxischer Beziehungen assoziiert ist.