Der geriatrische Versorgungsbedarf wird in den kommenden Jahren weiter deutlich ansteigen und muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen werden; neben einer kontinuierlicher Qualitätsverbesserung müssen geriatrischen Kapazitäten erheblich ausgebaut und die derzeitige Situation der teilweise fachspezifische unvollständigen bzw. Fehlversorgung geriatrischer Patienten rasch überwunden werden; zum Erhalt einer optimalen geriatrischen Rehabilitation muss die kritische Vergütungssituation in diesem Bereich verändert werden.

Das sind zentrale Aussagen des erstmals vom Bundesverband Geriatrie e.V. herausgegebenen „Weißbuchs Geriatrie“. Für die vom Düsseldorfer Institut GEBERA – Gesellschaft für betriebswirtschaftliche Beratung mbH durchgeführte Analyse waren in den vergangenen Monaten umfangreiche und repräsentative Daten erhoben und ausgewertet worden, um den aktuellen Stand der geriatrischen Versorgung in Deutschland abzubilden. Neben dieser Darstellung wird im „Weißbuch Geriatrie“ die Entwicklungsperspektive der geriatrischen Versorgung erfasst und bewertet. Verbunden ist dies mit einer Beschreibung des politischen und wirtschaftlichen Umfeldes für die Geriatrie in der Bundesrepublik. „Mit dem Weißbuch wird der Politik und der Fachöffentlichkeit eine belastbare Erhebung als Entscheidungshilfe an die Hand gegeben“, so der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Geriatrie e.V., Hon.-Prof. Dr. med. Dieter Lüttje, zu der am Dienstag in Berlin erfolgten Vorstellung der Ergebnisse des „Weißbuchs Geriatrie“.

Wohnortnahe Versorgung gesichert / Unterschiede bei Kapazitäten in Ländern

Aufgrund der föderalen Gestaltung des Gesundheitswesens sind die geriatrischen Versorgungsstrukturen in Deutschland sehr heterogen angelegt. Geriatrische Versorgung findet in den einzelnen Bundesländern sowohl in Akutkrankenhäusern als auch in Rehabilitationskliniken statt. Die existierenden Strukturen stellen heute weitgehend sicher, dass der geriatrische Patient tatsächlich in allen Behandlungsphasen Zugang zu entsprechendem geriatrischen Sachverstand und geeigneten Versorgungsstrukturen hat, konstatiert das Weißbuch. Für das Jahr 2007 (dem Zeitpunkt der zuletzt verfügbaren Daten) zeigte sich in Deutschland insgesamt eine nahezu flächenhafte Abdeckung mit geriatrischen Einrichtungen im Sinne einer wohnortnahen Versorgung (Erreichbarkeit innerhalb von 45 Minuten Fahrzeit). Allerdings bestehen hinsichtlich der vorgehaltenen geriatrischen Gesamtkapazitäten deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Zudem zeige der Versorgungsbedarf des geriatrischen Patienten die Notwendigkeit, die bestehenden Versorgungsstrukturen zu einer budget- bzw. sektorenübergreifend agierenden Geriatrie weiterzuentwickeln. „Die derzeitigen versorgungsrechtlichen Grenzen zwischen Rehabilitationsmedizin und Akutmedizin sind für die Geriatrie besonders kontraproduktiv“, so die eindeutige Bewertung der Autoren. Hierzu wird in dem Weißbuch Geriatrie das Modell des „Versorgungsverbundes Geriatrie“ vorgestellt, bei dem die Grundlage eine Versorgungsnetzwerkes mit den Vorteilen von Versorgungszentren kombiniert werden.

Gesetzliche Mindestanforderungen zur Qualitätssicherung nicht ausreichend

Die Qualität geriatrischer Versorgung misst sich daran, dass der spezifische akutmedizinische Behandlungsbedarf bzw. das individuelle geriatrische Rehabilitationspotenzial des alten Menschen erkannt, umfassend diagnostiziert und in die individuelle Konzeption der geriatrischen Behandlung eingebracht wird. Dafür sind nicht nur geriatrisches Fachwissen, sondern ebenso die zur Verfügung stehenden strukturellen Voraussetzungen ausschlaggebend, in denen das multiprofessionelle geriatrische Behandlungsteam gemeinsam tätig sein kann. „Die allgemeinen gesetzlichen Mindestanforderungen zur Qualitätssicherung sind hierzu nicht ausreichend fachspezifisch ausgerichtet. (…) Um den Lücken der externen Qualitätssicherung insbesondere hinsichtlich der Prozessqualität der geriatrischen Versorgung zu begegnen, sind zusätzliche freiwillige Prüf- und Zertifizierungsverfahren entwickelt worden. Der Bundesverband Geriatrie e.V. nimmt hierbei eine zentrale Stellung ein. So können z. B. das Aufnahmeverfahren einer geriatrischen Einrichtung in den Bundesverband, das Qualitätssiegel Geriatrie oder die Bündelung der verschiedenen Aktivitäten im ‚Qualitätssicherungssystem Geriatrie‘ sicherstellen, dass in der jeweiligen Einrichtung eine dem geriatrischen Behandlungsbedarf angemessene Versorgungsqualität angeboten werden kann.“

Deutlich wachsender Versorgungsbedarf

Die Auswertung des Datenmaterials belegt, dass die Inanspruchnahme geriatrischer Versorgung in der Vergangenheit kontinuierlich gestiegen ist. Die Fallzahlentwicklung unterscheidet sich deutlich von der allgemeinen Entwicklung im stationären Bereich. Der Aufbau der geriatrischen Kapazitäten im gleichen Zeitraum fiel dagegen weniger hoch aus. Dies hatte zur Folge, dass die Auslastung der geriatrischen Kapazitäten trotz einer Verweildauerreduktion insgesamt deutlich gestiegen ist. Angesichts der demografischen Entwicklung und der zu erwartenden Zunahme der Behandlungshäufigkeit älterer Menschen ist aufgrund der medizinischen und medizin-technischen Entwicklung eine deutliche Zunahme des geriatrischen Versorgungsbedarfs zu erwarten.
Bei der Prognose des Bedarfs sind als zusätzlicher wichtiger Faktor die derzeit nicht adäquat geriatrisch behandelten Patienten ebenso zu berücksichtigen wie die fallzahlsteigernden medizinischen Entwicklungen. Die Analyse zeigt deutlich auf, dass aktuell viele Patienten, die von einer fachspezifischen geriatrischen Versorgung profitieren würden, heute (noch) in anderen Bereichen des Gesundheitssystems versorgt werden. Diese Patienten erhalten damit nicht die für sie aus medizinischer Sicht optimal an ihr Alter bzw. ihre Lebenssituation angepasste Versorgung.
„Die Ergebnisse dieser Prognosen zeigen, dass die Kapazitäten der derzeitigen geriatrischen Versorgungsstrukturen nicht ausreichen werden, um diesem zukünftigen Versorgungsbedarf fachspezifisch gerecht zu werden.
Die alternde Gesellschaft und die damit verbundenen Herausforderungen machen es ebenso erforderlich die geriatrischen Versorgungsstrukturen inhaltlich weiterzuentwickeln.“

Kritische Vergütungssituation bei geriatrischer Rehabilitation

„Durch die Abbildung der Leistungen einer geriatrischen Behandlung in speziellen Komplexpauschalen ist es in zufriedenstellender Weise gelungen, eine leistungsentsprechende Vergütung dieser Leistungen zu erreichen und mit definierten Strukturanforderungen an die Leistungserbringung zu verbinden“, stellen die Autoren des Weißbuchs zur akutstationären Versorgung fest. Hinsichtlich der Vergütungssituation geriatrischer Leistungen in Rehabilitationseinrichtungen biete sich jedoch ein anderes Bild: „Diese ist insgesamt als sehr kritisch zu bewerten.“ Hauptursachen seien zum einen die generell angespannte Finanzierungssituation im Rehabilitationsbereich und zum anderen die durch die in der Geriatrie notwendige Personalintensität entstehenden, überproportional hohen Personalkosten. „Die wirtschaftliche Situation der Einrichtungen hat sich von Jahr zu Jahr trotz vielfältiger unternehmerischer Kompensationsmaßnahmen verschärft und engt den Handlungsspielraum der Akteure enorm ein. Hierdurch wird eine adäquate geriatrische Versorgung nachhaltig gefährdet“, so die Analyse. „Wird es in naher Zukunft nicht gelingen, die Vergütungssituation in der geriatrischen Rehabilitation deutlich zu verbessern, droht diesem immer wichtiger werdenden Bereich der medizinischen und pflegerischen Versorgung der Bevölkerung eine nachhaltige Erosion mit drohendem Substanzverlust.“ Nach Ansicht des Verbandes und der Autoren des Weißbuchs könnten auch die im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Bundesregierung vereinbarten Schiedsstellen einen wesentlichen Beitrag zur Entspannung der Situation leisten.

Verwiesen wird in diesem Zusammenhang darauf, dass eine gelungene geriatrische Behandlung direkte entlastende Auswirkungen auf andere Sozialversicherungssysteme, insbesondere die Pflegeversicherung hat. Dies sollte angesichts des steigenden Bedarfs an geriatrischer Behandlung bei der „zügigen Umsetzung der sich ergebenden Konsequenzen für die geriatrische Versorgungslandschaft“ berücksichtigt werden. „Dabei sollte der Gesetzgeber seine Gestaltungsmöglichkeiten unter Betrachtung gesamtökonomischer Effekte einsetzen. In diesem Sinne sollte den Pflegekassen ermöglicht werden, auch als Rehabilitationsträger agieren zu können.“

Nachholbedarf bei Aus- und Fortbildung

Deutliche Kritik wird in der Analyse daneben an der Aus- und Fortbildungstruktur für die in der geriatrischen Versorgung tätigen Personen geübt: „Grundvoraussetzungen für eine hohe Qualität in der geriatrischen Versorgung ist die Personalqualifikation der am geriatrischen Team beteiligten Professionen. Die Ausgangssituation dazu ist – auch im Hinblick auf die Situation in Europa – verbesserungswürdig.“ So seien beispielsweise im Rahmen der universitären medizinischen Forschung und Lehre geriatrische Lehrstühle an den Fakultäten deutlich unterrepräsentiert und die weiterführende berufliche Qualifikation der Ärzte ist in Deutschland in Abhängigkeit vom Bundesland bzw. der jeweils zuständigen Ärztekammer sehr heterogen. Die Möglichkeiten zur geriatrischen fachärztlichen Qualifikation müssen bundesweit deutlich verbessert werden „Diese Situation wird sich in Zukunft aufgrund des steigenden Versorgungsbedarfs und einer abnehmende Zahl praktizierender Mediziner weiter verschärfen und verlangt nach guten inhaltlichen und attraktiven Qualifikationsmöglichkeiten im Bereich der Geriatrie.“
Als eine ersten Schritt hat der Bundesverband Geriatrie zusammen mit einem Kooperationspartner vor diesem Hintergrund sein bestehendes Weiterbildungssystem „Zertifiziertes Curriculum Geriatrie (Zercur Geriatrie)“ um eine geriatriespezifische Fachweiterbildung erweitert.

„Weichen bereits heute stellen“

„Für die zukünftige Versorgung von älteren Menschen mit geriatrischen Behandlungsbedarf müssen bereits heute von Politik, Kostenträgern und Leistungserbringern die Weichen gestellt werden“, betonte der Vorstandsvorsitzende Hon.-Prof. Dr. med. Dieter Lüttje. Dies sei nicht nur von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, sondern zugleich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Für die Geriatrie bedarf es dazu einer Weiterentwicklung der bestehenden Versorgungsstrukturen und vermehrter Kapazitäten.

Der Bundesverband Geriatrie hat die Herausforderungen unter anderem in dem Konzept des „Geriatrischen Versorgungsverbundes“ aufgegriffen. Inhaltlich wurden dabei die Vorteile der „Zentrumsidee“ mit den Vorzügen eines „Versorgungsnetzwerkes“ kombiniert. Für dieses Konzept eines integrierten und zugleich fachspezifisch ausgerichtetes Netzes, welches über Sektorengrenzen hinweg agiert und eine individuell abgestimmte fachlich-inhaltliche Versorgung koordiniert, erfordert aber in seiner Komplexität die Veränderung der Rahmenbedingungen.

Der Bundesverband Geriatrie e.V. teilt die Aussage des Gutachters, dass Grundvoraussetzung für eine auch in Zukunft gesicherte optimale geriatrische Versorgung die Bereitschaft ist, die sektorenübergreifende Versorgung mit Leben zu füllen und nicht an Wettbewerbsgrenzen scheitern zu lassen sowie die Kostenträger als Partner aktiv in die Weiterentwicklung der geriatrischen Behandlung einzubinden. Nicht zuletzt seien die politischen Institutionen gefordert, ordnungspolitische Rahmenbedingungen zu schaffen, die insbesondere sozialrechtlich den Ausbau intersektoraler bzw. budgetübergreifender geriatrischer Behandlungsmodelle ermöglichen und die Grundlage für eine solide Finanzierung dieser Leistungen schaffen.

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