Patienten erhoffen sich im Sprechzimmer nicht nur medizinische Betreuung, sondern auch Unterstützung in persönlichen Belangen. Weit mehr als jeder zweite Arzt (67,5 Prozent) sieht sich heute mit Anforderungen konfrontiert, die früher von der Familie oder dem sozialen Umfeld erfüllt wurden. Eine Aufgabe, die im Praxisalltag kaum zu leisten ist und nach Auffassung deutscher Ärzte durch neue Strukturen aufgefangen werden sollte. Mindestens acht von zehn Medizinern (81,1 Prozent) fordern, dass soziale Tätigkeiten wie Krankenbetreuung und Pflege von der Gesellschaft getragen werden. So das Ergebnis des monatlich erhobenen CGM GesundheitsMONITORs, einer repräsentativen Umfrage unter 440 zufällig ausgewählten Hausärzten, Kinderärzten und Gynäkologen der CompuGroup Medical, der Rhein-Zeitung und der Medical Tribune aus dem Juni.

Lebenshilfe in der Arztpraxis

Statistiken belegen, dass einem deutschen Arzt im Durchschnitt 7,6 Minuten für ein Patientengespräch bleiben. Das ist wenig Zeit, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Und umso problematischer, wenn Patienten ein längeres Gespräch zu ihren Alltagssorgen suchen. Doch gerade damit haben Mediziner derzeit zu kämpfen. Denn einen engen familiären Zusammenhalt gibt es oft nicht mehr und soziale Verbandsstrukturen – ob durch Nachbarn, Freunde oder die Gemeinde – lösen sich zunehmend auf. Insbesondere ältere kranke Menschen vereinsamen und suchen bei ihrem Arzt die Hilfe, die früher die eigene Familie oder das soziale Umfeld geboten haben. Weit mehr als die Hälfte der befragten Mediziner (67,5 Prozent) bestätigt das und beklagt, dass die fehlenden sozialen Bindungen nur unzureichend durch professionelle Kräfte aufgefangen werden. Dazu erachten es 15,7 Prozent der Befragten als zeitgemäß, wenn Pflege und Betreuung von professionellen Kräften übernommen werden. Nur 16,8 Prozent der Ärzte fühlen sich in dieser Hinsicht nicht belastet und gehen davon aus, dass sich gut um die Belange ihrer Patienten gekümmert wird.

Alt, krank, arm und allein

Aus der Umfrage geht außerdem hervor, welche Menschen in sozialer Hinsicht immer mehr vereinsamen. Sechs von zehn der befragten Ärzte (60 Prozent) geben an, dass insbesondere Alte und Pflegebedürftige in der Praxis persönlichen Rat suchen. In Anbetracht der Tatsache, dass unsere Gesellschaft immer älter wird und die Zahl pflegebedürftiger Menschen entsprechend zunehmen wird, wird sich diese Situation künftig noch verschärfen. Aber auch andere, sozial Benachteiligte erhoffen sich Unterstützung bei ihrem Arzt. Fast ein Drittel der Mediziner (30,7 Prozent) beklagt, dass zum Beispiel junge Alleinerziehende mit ihren Problemen in die Praxis kommen.

Menschlichkeit statt Profit

In unserem derzeitigen Gesundheitssystem sind Krankenbetreuung und Pflege teuer und für viele Betroffene unerschwinglich. Dabei steigern die hohen Kosten keineswegs die Qualität, im Gegenteil: Die minutiöse Aufzählung jeder einzelnen Pflegeminute, der Einsatz von Fünf-Liter-Windeln und völlig überlastetes Pflegepersonal sind nur einige Missstände, die eine nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgerichtete Pflege mit sich bringt. Die persönlichen Bedürfnisse der Menschen bleiben dabei meist auf der Strecke. Dieser Auffassung ist offensichtlich auch die große Mehrheit der deutschen Ärzte. Mehr als acht von zehn der befragten Mediziner (81,1 Prozent) sprechen sich dafür aus, Krankenbetreuung und Pflege nicht mehr rentabilitätsabhängig zu organisieren. Soziale Tätigkeit – so die nahezu einhellige Meinung – müsse gesamtgesellschaftlich getragen werden. Nur 18,4 Prozent der Befragten sieht in Gesundheitsdienstleistungen ein großes wirtschaftliches Potenzial, das es zu nutzen gilt. Damit teilt ein Großteil der deutschen Ärzte die Auffassung des Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, Professor Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, der für ein grundsätzliches Umdenken und ein größeres soziales Engagement der Menschen untereinander plädiert.

Hilfe aus der Mitte der Gesellschaft gefragt

Professor Dr. Jörg-Dietrich Hoppe beklagt vor allem den Weg in eine Singlegesellschaft, in der Menschen mit ihren Problemen vereinsamen. Diese – oftmals seelischen – Nöte können laut Hoppe weder die Ärzte kompensieren noch Politiker durch Gesetze regeln. Der Bundesärztekammerpräsident fordert daher einen Solidarpakt aus der Mitte der Gesellschaft, um diese Probleme aufzufangen und die Gesundheitsversorgung abzusichern. Nach Auffassung der befragten Mediziner kann dieser Solidarpakt jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen funktionieren: Mehr als ein Drittel der Ärzte (35 Prozent) befürwortet, dass soziale Berufe wie beispielsweise Krankenpfleger ein besseres Ansehen bekommen als bisher. Mehr als ein Viertel (26,3 Prozent) setzt sich für die Unterstützung neuer Wohn- und Lebensformen wie assistiertes oder betreutes Wohnen oder Mehrgenerationenhäuser ein. 18,9 Prozent wiederum erhoffen sich Hilfe von staatlicher Seite und fordern mehr Geld für Sozialausgaben aus der Staatskasse. Und 18,4 Prozent der Befragten hält die Förderung ehrenamtlicher Tätigkeiten für sinnvoll.

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